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Klinische Bedeutung

Vier abnorme Muster können unterschieden werden. Wie in Abbildung 156.2 dargestellt, entsprechen diese einer physiologisch unterschiedlichen Gruppe von Krankheiten. Für jedes gibt es eine analoge Gruppe von Thrombozytenstörungen.

Abbildung 156.2. Muster von Anomalien.

Abbildung 156.2

Muster von Anomalien. (A) Knochenmarkshypoplasie. Es liegt eine reduzierte Anzahl von Retikulozyten vor. Der Prozentsatz der jungen Retikulozyten mit genügend RNA, um eine Polychromatophilie zu verursachen, ist normal. (B) Chronische hämolytische Anämie. Die Anzahl der Retikulozyten ist erhöht. (mehr…)

Reduzierte Retikulozyten-Prozentsätze werden bei Knochenmarksuppression gesehen. Beispiele hierfür sind zytotoxische Chemotherapie und aplastische Anämie (Abbildung 156.2A). Auch die Anämie bei chronischen Erkrankungen fällt in diese Kategorie. Um sicher zu sein, dass der Retikulozytenanteil abnormal niedrig ist, kann eine Wiederholungsmessung erforderlich sein, da bereits vier oder fünf Retikulozyten unter tausend gezählten Zellen (0,4 bis 0,5 %) innerhalb des Doppelfehlers von „normal“ liegen können. Wenn die Korrekturfaktoren verwendet werden, kann die absolute Retikulozytenzahl (Prozentsatz bereinigt um den Grad der Anämie) unter dem Normalwert liegen, obwohl der Prozentsatz normal ist. In solchen Fällen reagiert das Knochenmark nicht angemessen auf die Anämie und ist daher im absoluten Sinne hypoproliferativ. Dieser Ansatz hilft, diejenigen Erythrozytenstörungen physiologisch zu unterscheiden, bei denen die Anzahl und/oder die proliferative Aktivität der erythroiden Vorstufen des Knochenmarks mangelhaft ist. In der Praxis wird es jedoch aufgrund der oben beschriebenen Einschränkungen eine breite „Grauzone“ geben, in der es unklar ist, ob der Retikulozytenanteil (oder die Anzahl) normal ist oder nicht. Hypoplastische Thrombozytopenie hat eine ähnliche Grundlage.

Erhöhte Retikulozyten-Prozentsätze werden bei hämolytischen Störungen gesehen, egal ob intrinsisch (z.B. Hämoglobinopathie oder Enzymopathie) oder extrinsisch (z.B. traumatisch, Herzklappe, erworbene hämolytische Immunanämie). Solange die hämolytische Ursache nicht behoben ist, bleibt die Retikulozytenzahl erhöht. Eine besondere Gefahr für Patienten mit chronischer hämolytischer Anämie ist die vorübergehende Retikulozytopenie durch ein Medikament oder eine Infektion. Beim Normalen macht eine Knochenmarkshypoplasie selbst für eine Woche kaum einen Unterschied, da die Erythropoese einer Woche nur 7/120 oder 6% der Erythrozytenmasse ausmacht. Im Gegensatz dazu bildet der Patient mit chronischer hämolytischer Anämie und einem Retikulozytenanteil von 20% jeden Tag 20% der Zellen. Wenn die Zellen weiterhin vorzeitig zerstört werden, könnte sogar ein Rückgang auf die Hälfte der gewohnten Überproduktion katastrophal sein. Deshalb sollte der Patient mit einer chronischen hämolytischen Anämie (z. B. Sichelzellenanämie) sowohl die Retikulozytenzahl als auch das Hämoglobin in Intervallen messen lassen. In dem Maße, in dem die Hämolyse eine „Verschiebung“ der Erythropoese verursacht hat, werden die Zellen größer sein. Außerdem ist der Anteil der polychromatophilen Zellen umso größer, je mehr Anämie durch die Hämolyse verursacht wurde (Abbildung 156.2B). Daher kann ein extrem hoher Retikulozytenanteil nur eine bescheidene Zunahme der absoluten Erythropoese darstellen. Bei diesen Erkrankungen sind die Vorläuferzellen des Knochenmarks nicht nur in ihrer Anzahl erhöht, sondern auch in ihrer Reifung verändert. Dies ist analog zu den Veränderungen der Thrombozytenproduktion bei der Immunthrombozytopenie.

Der Retikulozytenanteil ist auch bei der Erholung von einer ernährungsbedingten Anämie (z. B. Eisen) oder der Erholung der Erythropoese nach einer Knochenmarksuppression (z. B. Chemotherapie) erhöht. Wenn das Knochenmark nach der Therapie normal ist, verläuft das Ausmaß der Retikulozytose parallel zum Ausmaß der Anämie. Ein ähnliches Muster zeigt sich bei der akuten Retikulozytose nach plötzlichem Blutverlust. Mit fortschreitender Genesung geht der Retikulozytenanteil auf den Normalwert zurück. Normalerweise gibt es bei diesen akuten Knochenmarkreaktionen keine „Verschiebung“ der Erythropoese. Der Retikulozytenanteil und die Anzahl sind hoch, aber der Anteil der polychromatophilen Zellen ist normal (Abbildung 156.2C). Die Anzahl der erythroiden Zellen im Knochenmark ist erhöht, aber ihre Reifung ist normal. Dies stellt eine geringere und vielleicht qualitativ andere Stimulation des Knochenmarks dar. Dies ähnelt einer reaktiven Thrombozytose.

Das Histogramm der Erythrozytenvolumenverteilung, das in vielen automatischen Blutzählern verfügbar ist, kann wertvoll sein. Wie oben erwähnt, sind bei normalem Knochenmark die Retikulozyten etwa 8 % größer als die Erythrozyten, zu denen sie heranreifen. Wenn nach einer vermeintlich spezifischen Therapie die Retikulozyten abnormal groß sind (> 105 fl oder < 85 fl), sollte der Arzt fragen, welche Abnormalität durch die Therapie demaskiert wurde. Am häufigsten ist eine makrozytäre Störung (aufgrund einer chronischen Lebererkrankung, eines Folsäure- oder Vitamin-B12-Mangels oder einer zytotoxischen Chemotherapie), die durch das niedrige MCV eines Eisenmangels verdeckt wird, bis eine Eisentherapie begonnen wird; oder umgekehrt ein Eisenmangel, der durch einen megaloblastischen Mangel verdeckt wird.

Ein niedriger Retikulozytenanteil oder eine niedrige Retikulozytenzahl spiegelt also ein Knochenmark wider, das nicht in der Lage ist, eine Anämie zu kompensieren. Ein hoher Retikulozytenanteil oder eine hohe Retikulozytenzahl spiegelt ein Knochenmark wider, das versucht, die Zerstörung der roten Blutkörperchen zu kompensieren oder sich von einer Anämie zu erholen. Zwischen den beiden eindeutigen Extremen befinden sich diejenigen Probanden, die Retikulozyten-Prozentsätze innerhalb des normalen Bereichs haben, einschließlich des technologischen Fehlers. Zu diesen normalen Retikulozyten-Störungen gehören viele Fälle von Ernährungsstörungen (Eisen-, Folat-, Vitamin B12-Mangel); das verwirrende Spektrum von chronischen Lebererkrankungen und Alkoholmissbrauch; Leukämien und andere Knochenmark-infiltrierende Störungen; und nicht-anämische Hämoglobinopathien wie Hämoglobin AS oder AC. Die Differentialdiagnose ist lang und normalerweise sind andere, spezifischere Tests erforderlich, um eine Diagnose bei Patienten mit normalen Retikulozytenwerten zu stellen. Ein Abgleich auf Hämatokrit oder Polychromasie ist in der Regel nur bei ausgeprägter Anämie sinnvoll.

Polychromasie kann im peripheren Blutausstrich erhöht sein, auch wenn die Retikulozytenzahl oder der Prozentsatz normal ist. Dieser Befund deutet auf die vorzeitige Freisetzung von erythroiden Zellen aus einem nicht hyperaktiven Knochenmark hin. Zu den Ursachen gehören Markinfiltration durch Tumor oder Granulome oder Markfibrose. Bei diesen Erkrankungen wird vermutet, dass die physiologische oder physikalische Barriere, die unreife Erythrozyten von der Zirkulation fernhält, beeinträchtigt ist. Die Entfernung der Milz wird kaum eine derartige Veränderung verursachen, wenn die Splenektomie bei einem ansonsten hämatologisch normalen Patienten durchgeführt wird. Bei einem Patienten, dessen Knochenmark bereits geschädigt ist, kann jedoch eine größere Anzahl an abnormalen Zellen vorhanden sein, einschließlich unreifer Retikulozyten und kernhaltiger Erythrozyten. Durch die Entfernung der Milz wird ein Großteil dieser Zellen herausgefiltert. Daher können Patienten mit Splenektomie und Knochenmarkersatz oder Fibrose trotz eines bescheidenen Retikulozytenanteils eine dramatische Polychromasie aufweisen (Abbildung 156.2D). In ähnlicher Weise haben Patienten mit Splenektomie oder Knochenmarkinfiltration abnormal große Thrombozyten freigesetzt.

Der Prozentsatz der RNA-haltigen Erythrozyten und die RNA-Menge pro Retikulozyt können kombiniert werden, um eine Klassifizierung von Erythrozytenstörungen zu ermöglichen (Tabelle 156.1). Damit wird die morphophysiologische Klassifikation um die elektronischen Indizes mittleres Zellvolumen und Erythrozytenverteilungsbreite erweitert.

Tabelle 156.1. Physiologische Unterscheidung von Störungen der Erythropoese.

Tabelle 156.1

Physiologische Unterscheidung von Störungen der Erythropoese.

Weder das automatische Blutbild (ABC) noch die Retikulozytenzahl liefern eindeutige spezifische Diagnosen. Ein charakteristischer Satz von ABC- und Retikulozytenwerten kann eine kleine Differenzialdiagnose oder sogar eine spezifische Störung nahelegen. Normalerweise ist es dann angebracht, speziellere Tests zu wählen, um eine definitive Diagnose zu bestätigen. Zum Beispiel deutet eine Anämie mit einem hohen Retikulozytenanteil auf eine Hämolyse hin. Abhängig von anderen Daten kann der Bestätigungstest eine Hämoglobin-Elektrophorese, ein Coombs“-Test usw. sein. Die Verwendung des ABC und des Retikulozyten-Prozentsatzes, die beide schnell und kostengünstig sind, können die Diagnose fokussieren und beschleunigen und die Anzahl der langsameren und teureren Bestätigungstests begrenzen.

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