Die Blank Slate Kontroverse
Psychologen wie B. F. Skinner argumentierten früher, dass der Mensch ein unbeschriebenes Blatt sei, in dem Sinne, dass fast unser gesamtes Verhalten erlernt sei. Evolutionspsychologen waren da anderer Meinung. Wer hat Recht?
Die Idee des unbeschriebenen Blattes hat eine lange Geschichte in der Philosophie, die bis zu Aristoteles zurückreicht. Skinners Version stützt sich auf den englischen Philosophen John Locke, der eine Theorie des Wissens als durch die Assoziation von Sinneserfahrungen gebildet entwickelte (und sich dabei auf ein leeres Blatt Papier bezog).
Die Entwicklung des Gehirns ist schwer vorherzusagen
Eine Möglichkeit, zwischen dem unbeschriebenen Blatt und dem biologischen Determinismus zu entscheiden, besteht darin, die Auswirkungen ungewöhnlicher Ereignisse in der pränatalen Entwicklung zu untersuchen.
Viele Hinweise deuten darauf hin, dass weibliche Föten, wenn sie übermäßigen Mengen an Sexualhormonen ausgesetzt sind, mit einem maskulinisierten Verhalten aufwachsen (1). Bei Versuchsaffen weisen die Weibchen das männliche Muster einer stärkeren körperlichen Aktivität auf. Bei Menschen identifizierten sich Frauen, die im Mutterleib hohen Mengen an Sexualhormonen ausgesetzt waren – weil ihre Mütter fälschlicherweise weiterhin die Antibabypille nahmen – eher als Lesben.
Im Falle der Androgeninsensitivität, einer genetischen Störung, können Personen mit einem männlichen Genotyp aufwachsen, die genau wie Frauen aussehen und sich verhalten. Dieses natürliche Experiment deutet darauf hin, dass die Exposition gegenüber Androgenen während der Entwicklung einen Großteil des männlichen Aussehens und Verhaltens bestimmt.
Die Gehirnfunktion wird durch die Exposition gegenüber Stresshormonen stark beeinflusst, so dass Kinder, die in stressigen Elternhäusern aufwachsen, in denen sich die Eltern viel streiten, bei IQ-Tests schlechter abschneiden (2).
Der Einfluss der pränatalen Ernährung auf die Intelligenz ist gut belegt. Forscher finden heraus, dass gut ernährte Mütter Kinder zur Welt bringen, die nicht nur größer und gesünder sind, sondern auch intelligenter, motivierter, hart zu arbeiten und wirtschaftlich erfolgreicher (3).
Kritiker dieser Beweise könnten argumentieren, dass hier etwas in der Entwicklung schief läuft, was für Menschen, die unter normaleren Umständen aufwachsen, von fragwürdiger Relevanz ist. Dennoch ist es vernünftig anzunehmen, dass es eine Variationsbreite für Ernährung, Stresshormone und Sexualhormone gibt, innerhalb derer eine normale Entwicklung stattfinden kann. So können wir zumindest schlussfolgern, dass, wer wir sind, sehr stark von biologischen Faktoren im Mutterleib beeinflusst wird, im Gegensatz zu den „Blanko-Theorien“.
Ein anderer Ansatz ist es, von der Geburt an zu beginnen und zu fragen, ob viele Aspekte unserer Persönlichkeit und kognitiven Funktionen bereits durch unser genetisches Erbe und unsere Biologie bestimmt werden.
Welches Verhalten ist bei der Geburt „geladen“
Der vielleicht deutlichste Beweis gegen das Konzept des unbeschriebenen Blattes ist die Tatsache, dass Menschen in Bezug auf Persönlichkeitsdimensionen ihr Leben lang weitgehend gleich bleiben. Einige von uns sind extrovertiert. Andere sind introvertiert. Einige von uns sind körperlich sehr aktiv, während andere weniger energiegeladen sind. Einige von uns reagieren sehr emotional auf kleine Ereignisse in unserem Leben, während andere unaufgeregt sind.
Solche Persönlichkeitsmerkmale sind durch die Biologie unseres Gehirns prädisponiert, und die Tatsache, dass diese Merkmale stark vererbbar sind (wobei die genetische Abstammung etwa die Hälfte der individuellen Unterschiede in den wichtigsten Persönlichkeitsdimensionen ausmacht, 4), spricht eindeutig für diese Ansicht.
Wie unser Gehirn Informationen verarbeitet, ist bis zu einem gewissen Grad durch die Anatomie und Physiologie des Gehirns vorgegeben. Neurowissenschaftler haben ein detailliertes Wissen über die funktionelle Anatomie des Gehirns entwickelt, so dass die Schädigung eines bestimmten Teils zu vorhersagbaren funktionellen Defiziten führt. Eine Schädigung des Hippocampus führt zum Beispiel zu Gedächtnisproblemen.
Außerdem verlaufen Informationen im Gehirn auf vorhersehbaren Wegen. So wandern visuelle Informationen von der Netzhaut zum Thalamus, müssen aber den Kortex erreichen, damit eine komplexe Mustererkennung möglich ist und eine visuelle Wahrnehmung stattfinden kann.
Trotz der Hinweise darauf, dass Verhaltensdispositionen bereits bei der Geburt vorhanden sind, hat das Gehirn selbst schablonenartige Eigenschaften (5). Dieses Phänomen wurde am ausführlichsten für kortikale Zellen untersucht, die zunächst nicht wissen, was sie tun sollen, sondern eine Beziehung zu benachbarten Zellen entwickeln und am stärksten auf diejenigen reagieren, die sie am meisten stimulieren. Das bedeutet, dass, wenn eine Person einen Finger verliert, die Teile des Kortex, die diesen Finger repräsentiert haben, wahrscheinlich anfangen werden, auf den Input eines anderen Fingers zu reagieren.
Die inhärente Veränderbarkeit oder Plastizität von Gehirnzellen wurde mit einer leeren Tafel verglichen, auf die sensorischer und motorischer Input geschrieben wird. Manchmal wird diese Information gelöscht, so dass etwas anderes an ihre Stelle geschrieben werden kann.
Wer hat also recht?
Die historischen Bruchlinien in der Psychologie liegen zwischen dem Modell der leeren Tafel der Behavioristen und dem entgegengesetzten Extrem, das von vielen Evolutionspsychologen favorisiert wird.
Beide Extreme scheinen falsch zu sein. Wir wissen zum Beispiel, dass Persönlichkeitsmerkmale entgegen der behavioristischen Sichtweise stark vom Genotyp beeinflusst werden. Einige plausible Mechanismen, durch die dies geschieht, sind beschrieben worden, wie z.B. die genetische Modifikation der Anzahl von Neurotransmitter-Rezeptoren.
Auf der anderen Seite, je mehr wir über das Gehirn entdecken, desto mehr sind wir beeindruckt von seiner Fähigkeit, auf wechselnde sensorische Inputs zu reagieren. Es ist also ziemlich unplausibel, dass Menschen mit einem voll funktionsfähigen, genetisch festgelegten Gehirn-„Programm“ geboren werden, das einige darwinistische Probleme löst, wie z.B. das Verhindern von ehelicher Untreue.
Das Gehirn ist bei der Geburt vielleicht nicht völlig leer, aber es ist auch nicht völlig programmiert. Es ist eine interessante Mischung aus Skript und Improvisation.